Stellungnahme Keuth

Fakultät für Philosophie und Geschichte
EBERHARD KARLS UNIVERSITÄT TÜBINGEN
Philosphisches Seminar
Bursagasse 1
72070 Tübingen

Prof. Dr. Herbert Keuth

Stellungnahme zum "Gutachten zur Neuen Medizin" des Prof. Dr. Hans-Ulrich Niemitz

Am "Gutachten zur Neuen Medizin" des Prof. Dr. Hans-Ulrich Niemitz fällt zunächst auf, daß der Gutachter nicht Mediziner ist, sondern an der "Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig" im Bereich des Studium Generale tätig ist und dort für das Gebiet "Geschichte und Ethik von Technik und Naturwissenschaften" berufen wurde [sofern die Angaben in dem "Gutachten", das mir nur als Kopie vorliegt, stimmen]. Nun beansprucht er auch nicht, "Schulmedizin" und "Neue Medizin" mit den Mitteln der Medizin zu beurteilen, sondern er beabsichtigt offenbar eine wissenschaftstheoretische Beurteilung.

Die unhaltbare Argumentation des Autors und sein groteskes "Fazit" lassen sich nur mit seiner Unkenntnis sowohl der Wissenschaftstheorie als auch wichtiger Teile der Wissenschaftsgeschichte erklären. Als Quellen nennt er nur die Stichwortartikel "Wissenschaft" und "Hypothese" (beide S 3f.) aus der Brockhaus-Enzyklopädie. Ich beschränke mich auf einige Punkte der Kritik:

(1) Der Autor schreibt (S. 2): "Die Schulmedizin bedient sich zwar wissenschaftlicher Methoden (z.B. Beobachtung, Statistik), ist aber wegen ihrer vielen Hypothesen, d.h. (nicht bewiesenen) Unterstellungen weder eine Wissenschaft [...] geschweige denn eine Naturwissenschaft. Sie hat keine hypothesenfreie Theorie des biologischen Geschehens beim einzelnen "kranken Menschen"" (m.H.). – Dazu ist folgendes zu bemerken: (a) Beweise sind nur in den Formalwissenschaften Logik und Mathematik möglich. (b) Ausnahmslos alle Aussagesätze in Alltag und empirischer Wissenschaft haben den Charakter von Hypothesen (sind also nicht beweisbar, sondern können nur widerlegt werden oder sich bewähren, beides nicht einmal endgültig). (c) Deshalb kann es eine hypothesenfreie Theorie in einer empirischen Wissenschaft gar nicht geben.

(2) Auf S. 3 überschreibt der Autor einen Absatz: "Hypothesen sind noch nicht überprüfte oder gar unüberprüfbare Aussagen" und erklärt dann: "Wenn man nur Aussagen machen kann, die (noch) nicht die Möglichkeit bieten, sie zu falsifizieren, spricht man von Hypothesen" (H.i.O). – Hier zeigt sich, daß er mit dem Gebrauch des Wortes "Hypothese in der Wissenschaftstheorie" (S. 3) nicht vertraut ist. Auch (a) falsifizierbare, (b) bereits überprüfte und selbst (c) bestens bewährte Aussagen sind Hypothesen.

Anschließend übernimmt er teils wörtlich einen Satz aus dem Stichwortartikel "Hypothese" des Brockhaus-Enzyklopädie, ignoriert aber die darauf folgenden Sätze, die seinen Irrtum richtigstellen könnten. Einer von ihnen lautet: "Für die Erfahrungswissenschaften wird [neben der Widerspruchsfreiheit] verlangt, daß H. einen empirischen Gehalt haben sollen; aus ihnen ableitbare Vorhersagen müssen durch Erfahrung überprüfbar sein", und die Überprüfung kann, wegen des Induktionsproblems, nie in einer Verifikation, sondern stets nur in einer Falsifikation oder in einer Bewährung resultieren. Vor allem der Satz "Gesetze sind bes. bewährte H. allgemeinen Inhaltes" (m.H.) hätte ihn warnen können.

(3) Er schreibt (S. 4): "Die Hypothese der Schulmedizin zum Beispiel, es gäbe ein Immunsystem, ist eine nicht falsifizierbare Aussage" (m.H.). Warum meint er das? Er fährt fort: "Das Immunsystem hat bisher noch niemand unmittelbar beobachten können". – Das ist richtig, denn ein System ist ein Abstraktum. So hat auch noch niemand ein Rechtssystem unmittelbar beobachten können, doch daraus folgt offenbar nicht, das es keines gäbe. Der Stichwortartikel "Immunsystem" der Brockhaus-Enzyklopädie hätte ihn lehren können, daß es jedenfalls beobachtbare Bestandteile des Immunsystems gibt, so z.B. bestimmte Organe, wie Thymus, Milz, Lymphknoten, aber auch Antikörper und Lymphozyten.

Immerhin sieht er die Möglichkeit einer Prüfung der Hypothese des Immunsystems anhand von Voraussagen, die mit ihrer Hilfe abgeleitet werden. Aber er wendet ein, daß die zur Prüfung herangezogenen "beobachtbare(n) Fakten" "auch zur Bestätigung anderer Aussagen dienen könnten (S. 4 m.H.) – Wo das der Fall ist, kann man natürlich anhand dieser Fakten keine Wahl zwischen der geprüften Hypothese des Immunsystems und den "anderen Aussagen" treffen. Aber der Autor suggeriert, daß es keinerlei beobachtbare Sachverhalte gibt, anhand deren man eine solche Wahl treffen könnte.

Ich kann es einem Mediziner überlassen, darzulegen, daß sich manche Hypothesen über das Immunsystem bewährt haben, während andere widerlegt wurden. Auf weitere Mängel und Absonderlichkeiten dieses "Gutachtens" muß ich dagegen nicht mehr eingehen.

15.09.2003

Dr. Keuth